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88 promovierende – wissenschaftlicher nachwuchs ethnografie in der pflegeforschung 89
Ethnografie in der fänger der Pflege ist, verstanden gerische Interventionen, für die Gruppe der Früh- und Neugebo-
Umsetzung von Bedürfnisgerech-
renen. Das Forschungsinteresse
bzw. ergründet werden, es ist
Pflegeforschung aber auch zu ergründen, was das tigkeit und Selbstbestimmung, der Autorin in ihrem Dissertati-
für die Hilfe zum Gesundwerden
onsprojekt liegt im Verstehen des
»Gegenüber […] zu verstehen
und -bleiben (und) für den Um-
Phänomens Schmerz sehr kleiner
meint«. Pflegeforscher und Pfle-
am Beispiel eines aktuellen gende wollen in Handlungssitua- gang mit Krankheit« (Nover Frühgeborener. Da es sich um
tionen begreifen, was die Pati-
2020: 9-10). Den Forschungsge-
eine aktuell laufende Forschung
Dissertationsprojektes ent:in meint und was die Pati- genstand zu verstehen ist also handelt, wird sich der Inhalt die-
Voraussetzung, um passgenaue
ses Artikels in Teilen auf allgemei-
ent:in der Pflegefachperson
»sagen will, meint und meinen pflegerische Interventionen zur ne Beschreibungen beschränken.
könnte und dabei [ist] zu berück- Verfügung zu stellen. Im Folgen- Um das Forschungsinteresse nach-
text Anne Schmitt, M.Sc. sichtigen, dass ich (die Pflege- den wird der Forschungsgegen- vollziehen zu können, folgt eine
fachkraft (e. A.)) selbst auf eine stand kurz dargelegt. kurze Einführung in das Phäno-
bestimmte Art und Weise reagie- men Schmerz bei Frühgeborenen.
ür ein laufendes Disser- der Pflege interessiert (Schröter passt (Strübing 2013: 25 in Nover re, die sich mir nicht immer er- Auf der Grundlage von syste-
F tationsprojekt wurde ein 2019). 2020: 4). Gegenstandsangemes- schließt« (Nover 2020: 8). Nover matischer Literaturanalyse und
ethnografisch angelegtes Studi- ›Die Pflege‹ ist in unserem All- senheit bezieht sich auf die Wahl bezeichnet es als »Prozesse des 2. Forschungs- Erfahrungen im klinischen Setting
endesign gewählt. In dem vorlie- tag allgegenwärtig, wir haben des Gegenstandes, der beforscht Verstehens oder Missverstehens«, gegenstand: erarbeitete sich die Forscherin
genden Artikel wird eine Annähe- vielfältige Kontakte zu Institutio- werden soll und die Forschungs- die »in aufwändigen Forschungs- Schmerz Wissen zum Thema Schmerz in
rung an die Ethnografie im Kon- nen, die Pflege bereitstellen — als methode. Die Wahl des For- prozessen zu rekonstruieren« der Patientengruppe der Früh-
text der Pflegewissenschaft und Patient:innen, An- und Zugehöri- schungsgegenstandes und der sind. Auf der Handlungsebene der sehr kleiner geborenen. Das Dissertationspro-
Pflegeforschung versucht und im ge oder als Pflegende selbst. Es Forschungsmethode wird davon Pflegepraxis ist also das Ziel der Frühgeborener jekt nimmt besonders Frühgebo-
Kontext des Forschungsinteres- handelt sich also um ein weites beeinflusst, wie die Forscher:in Forschung »offensichtlich […]: ich rene an der Grenze der Lebens-
ses der Autorin gesetzt. Im mög- Feld, das »mühsam abzustecken, selbst ‚versteht‘, das beeinflusst möchte mein Gegenüber verste- fähigkeit in Bezug auf das Phä-
lichen Rahmen der Autorin kann zu ergründen und zu beackern« ihre »Vorstellung davon, wie man hen lernen um ihm/ihr besser Die Autorin arbeitet seit vielen nomen Schmerz in den Blick. In
auch nicht mehr als eine ›Annä- ist (Dunger, Schnell & Bausewein sich dem Gegenstand nähern gerecht zu werden«. Verstehen in Jahren auf der Kinderintensiv- der Gruppe der Frühgeborenen
herung‹ möglich sein. Da das Dis- 2017). Hier wird das Tätigkeitsfeld kann«, der erforscht werden soll. diesem Kontext ist aus der Sicht station, die größte Patienten- handelt es sich bei Frühgebore-
sertationsprojekt noch nicht ab- der Pflegewissenschaft verortet, Zur Gegenstandsangemessenheit der Pflegepraxis »die Grundvor- gruppe, die auf der Kinderinten- nen an der Grenze der Lebens-
geschlossen ist, wird auf dessen das auch Dunger als eher anwen- muss über die Selbstreflexion aussetzung für passgenaue pfle- sivstation versorgt wird, ist die fähigkeit um Kinder, die vor der
Verlauf nicht weiter eingegangen. dungsorientierte Wissenschafts- eigener Annahmen des Verste-
Allerdings wird in Punkt 2 ›For- praxis versteht, die sich u. a. kon- hens und der eigenen individuel-
schungsgegenstand — Schmerz kreter Problemlösungen widmet len Haltung das subjektive Ver-
sehr kleiner Frühgeborener‹ kurz und sich weniger an der abstrak- stehen des Forschungsgegen-
dargelegt, welche Thematik be- ten Wahrheitsfindung ausrichten standes hinzukommen. Dieses
arbeitet wird. würde (Dunger, Schnell & Bause- denklogische Modell ist gekenn-
wein 2017). zeichnet »durch wellenförmig
Die Pflegeforschung will den
1. Pflegewissen- Gegenstandsbereich der Pflege- verlaufende Graduierungen von
Zweifel und Gewissheit und regel-
schaft und wissenschaft beschreiben und mäßig wiederkehrenden syste-
Pflegeforschung erweitern. Außer quantitativen matischen Reflexionsschleifen«
Methoden werden in der Pflege-
(Nover, Sirsch, Doettinger, Panke-
forschung qualitative Methoden Kochinke 2015: 311 f in Nover
Seit mehreren Jahren konstitu- der Sozialwissenschaften einge- 2020: 36).
iert sich die Pflegewissenschaft, setzt. Der Kern qualitativer Me- Qualitative Forschungsme-
die sich auch in Deutschland im- thoden ist mit den Prinzipien thoden ermöglichen es vor allem,
mer mehr zur eigenständigen Dis- (Gütekriterien) der Gegenstands- »Handlungs- und Kommunikati-
ziplin entwickelt. Dabei ist die angemessenheit, Offenheit, Kom- onsprozesse im menschlichen
Pflegewissenschaft als anwen- munikation, Prozesshaftigkeit Miteinander« zu rekonstruieren.
dungsorientierte Wissenschaft an und Reflexivität verbunden. Diese Vor allem im Prozess der Pflege
Lösungen konkreter Probleme Prinzipien beziehen sich auf die (Pflegeprozess) muss das Gegen-
der Pflege und der Adressaten einzelnen Verfahren jeweils ange- über, also der Mensch, der Emp-